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Sechs Rohrpostbriefe laufen um die Wette
Der Geschäftstrick eines Destillenwirtes
12-Uhr-Blatt, 1927

Eine Kneipe, die nichts Besonderes vermuten läßt. Im Osten Berlins. Mit einem blinden Schaufenster, drei, vier, fünf blankgescheuerten Tischen, die wie stumpfer Marmor glänzen. Hockerstühle.
Von solchen Budiken gibt es hier an jeder Ecke mehrere, und wenn sich die Strecke von einer Straßenkreuzung zur anderen länger als 40 Meter hinzieht, sind mittendrin, zwischen Milchladen und ff-Wurstwaren, noch einige bescheiden hingetupft. Immerhin: auch die Budiken in dieser Gegend werden langsam vom Geist der Zeit erfaßt und beginnen, nach Neuem, Anziehendem, Besonderem zu suchen. Es genügt nicht mehr, in milder Geschäftigkeit Bierschaum zu schöpfen, Korn einzuschenken oder beim Skat heimliche Tips zu geben. Derartiges gibt es bei allen, und manche haben noch dazu den Vorzug einer eben konfirmierten Tochter, die als ›Barfrau‹ zur Schau gestellt wird. Nein, was -- wenigstens für ein Jahr -- ›das‹ Geschäft werden soll, muß anders aussehen.
Den Treffer hat in dieser Beziehung der Besitzer jener oben erwähnten schlichten Kneipe gemacht, ein Mann mit feuergelben Haaren, gutmütigen Augen, Zwiebelnase und zufriedenem Schmunzeln. Von morgens bis spät nachts ist in seinem Laden Betrieb. Arbeiter in Arbeitsuniform -- blaue Blusen und scharzweißgestreifte Kaffeeflaschen --, die nach Feierabend ihren Schluck nehmen; Arbeitslose, die vor und nach dem Stempeln einen Blick hineintun; und wieder andere die auch ohne Arbeit sind und ihre freie Zeit überhaupt nur mit dem Besuch dieser Kneipe ausfüllen. Trotzdem hat der Unbefangene den Eindruck, als ob diese Gasthalle nicht nur des Bieres, Kognaks oder Kartenspieles wegen dasitzen; sie scheinen alle irgendwie voller Spannung, blicken ruckartig zur Tür, die sich mit müden Gebimmel auftut, und sind argwöhnisch, verbissen, teilnahmslos, wenn ein neuer, fremder Gast erscheint.
Das ist überhaupt das seltsame an dem Lokal, daß es allein von Stammgästen besucht zu sein scheint.
"Meine Jäste kommen alle wieda, wenn se erstmal bei mia waan", grinst der Wirt. Und tatsächlich sieht man Tag für Tag die gleichen Münder hier in das Bier tauchen, die gleichen Bärte voller Schaum, die gleichen Finger, die die Karten mischen.
Nach mißtrauischen Blicken, die nur mittels einiger Lagen zu beheben sind, wird endlich der harmlose Trick verraten. Der Wirt hat sich zum Zwecke eines bescheidenen Nebenverdienstes ein Wettbüro zugelegt. Es nimmt Wetten an. Wetten auf Rohrpostbriefe!
"Warum imma detselbe, ha‹ ick mir jedacht. Des wittet auf Ferde, und des wettet ooch auf Ferde. Warum soll ick nich auf Rohrpostbriefe wetten lassen?"
Und man erfährt somit freundlichen Blicks, daß täglich sechs Rohrpostbriefe vom Lokal -- an die Adresse des Besitzers gerichtet -- verschickt werden, und zwar von irgendeinem fremden, natürlich gemeinsamen Postamt Berlins aus. Die Briefe werden nummeriert von eins bis sechs, und die Gäste wetten von fünfzig Pfennig aufwärts, welcher Brief zuerst durchs Ziel gehen wird.
Deshalb also sitzen Männer Tag für Tag in einer Kneipe, vertrinken ihren Wochenlohn, lassen sich von Frauen und Kindern spät in der Nacht nach Hause schleifen -- weil sie sich die hehre Aufgabe gestellt haben, die Postbeamten auf ihre Pünktlichkeit und Exaktheit hin zu kontrollieren.
"Ick komme schon uff meine Kosten", meint der Wirt. "Die paar Pfennige Porto kommen durch die Wetten ein, von denen ick meine zehn Prozent einbehalte. Na, un sonst? Det volle Haus?" Er weist in der Pose eines regierenden Königs auf seine Gäste.

Bilanz der Armut
Sonntag, 1948

Die große Umsiedlung aller jener, die nach Verlust unserer Ostgebiete ihre Heimat verlassen haben und ins Innere des Landes abwandern mußten, nähert sich ihrem Ende. Mit Ablauf des Jahres soll der letzte Deutsche, der seinen Wohnsitz innerhalb der abgetrennten Gebiete hatte, ins verbliebene Deutschland zurückgeführt, soll auch der letzte Kriegsgefangene heimgekehrt sein. Der erste große Ansturm der Heimatlosen liegt hinter uns. Vier Millionen von ihnen wurden allein in der sowjetisch besetzten Zone angesiedelt. Sie wurden zunächst untergebracht, wo sich ein Dach für sie fand, ohne Rücksicht auf fachliche Fähigkeiten. Es ist klar, daß diese Lösung nicht endgültig sein kann. In einer Zeit, da wir nichts besitzen als unsere Arbeitskraft, können wir es uns nicht leisten, auch nur eine einzige Arbeitskraft falsch anzusetzen. Jeder Facharbeiter muß genau an die für ihn bestimmte Maschine, jede Buchhalterin in das für sie bestimmte Büro. Die Umsiedler wohnen zum größten Teil auf dem flachen Lande. Aber nicht alle sind Landarbeiter. Welche Berufe übten sie früher aus? Wovon leben sie heute? Wie wohnen sie? Wie gestaltet sich ihr Verhältnis zu der Stammbevölkerung?
Um auf diese Fragen erschöpfende Antworten zu bekommen, hat die ›Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler‹ eine Strukturforschung durchgeführt. Bearbeitet wurde ein Landkreis in Mecklenburg, nahe der Küste. Er hatte früher 34.000 Einwohner, jetzt sind etwa noch einmal soviel dazugekommen: 33 000 Umsiedler und 5300 Evakuierte. Mecklenburg ist dasjenige Land der sowjetisch besetzten Zone, das die meisten Umsiedler aufgenommen hat. Die durchschnittliche Wohnfläche beträgt hier pro Person nur 5,5 qm -- gegenüber einem Zonendurchschnitt von 10 qm. Aber es gibt genügend Brot. Von dem in Frage stehenden Landkreis wird sogar erzählt, daß es dort reichlich Milch und Butter gibt. Dem Besucher fällt auf, daß der Boden schwer und daß das reichlich vorhandene Vieh wohlgenährt ist. Daneben sieht er schmale Kindergesichter. Solche Gegensätze gibt es überall auf der Welt, wo Besitzende und Besitzlose nebeneinander leben. Die rund 20 000 Fragebogen, die nach monatelanger mühevoller Kleinarbeit heute ausgefüllt vor uns liegen, sprechen eine ähnliche Sprache. Der Beschauer erkennt auf den ersten Blick, ob es sich bei dem betreffenden Einwohner um einen Alteingesessenen oder um einen Umsiedler handelt. Die Rubrik ›Angaben über Besitz an Möbeln, Küchengerät usw.‹ weist bei dem einen eine respektierliche Zahlenreihe, bei dem anderen nur magere Striche auf.
Wir nehmen ein beliebiges Dorf heraus. Es setzt sich aus 83 Haushalten zusammen. Der Prozentsatz an Umsiedlern liegt hier über dem Durchschnitt: 53 gegenüber nur 30 Altbürger-Familien. -- Eine Ziffer des großen Fragebogens, dessen gewissenhafte Ausfüllung man durch den Einsatz von Zählern gewährleisten wollte, lautet: "Wünschen Sie einen Wechsel Ihres jetzigen Wohnortes? Wenn ja, aus welchem Grunde?" Es fällt auf, daß nur 23 Umsiedler dieses Dorfes diese Frage bejahen. Neun davon wollen zu ihren Angehörigen: zum Sohn, zum Mann, der, aus der Gefangenschaft gekommen, im Westen hängen geblieben ist, zum Bruder, zu den erwachsenen Kindern. Die übrigen 14 streben aus Existenzgründen fort. Es sind drei Intellektuelle darunter, ein Architekt, ein Musiker und ein Lehrer, denen das enge Dorf kein Betätigungsfeld bietet. Zwei Schneider, die sich neben den einheimischen Kollegen nicht behaupten können. Ein Landarbeiter und sechs ungelernte Frauen mit Kindern, die zur Zeit -- die Erhebungen wurden zu Beginn des Winters gemacht -- keine Arbeit haben. Eine dieser Frauen plant, in der Stadt einen Kindergarten aufzumachen. Ein Ehepaar mit seiner erwachsenen Tochter will in einem größeren Dorf eine Siedlung übernehmen. Einen Maurer zieht es nach Berlin. Das ist alles. Alle übrigen Umsiedler sind -- laut Fragebogen -- mit ihrem Los zufrieden. Haben sie alle eine geregelte Beschäftigung? Durchaus nicht. Weshalb aber bescheiden sie sich? Weshalb sehnen sie sich nicht fort aus dem Dorf? Ist es Zufall, daß es unter ihnen keinen Spezialisten gibt, keinen Dreher oder Schlosser oder Textilarbeiter, der in der Stadt bessere Arbeitsmöglichkeiten hat? Die Fragebogen der anderen Dörfer zeigen ein ähnliches Bild. Überall fehlt es scheinbar an Facharbeitern. Ist Deutschland wirklich an Spezialkräften arm geworden?
Nein, die Ursachen hierzu liegen woanders. Da ist zum Beispiel der Mechaniker P. Er stammt aus Schlesien, ist 1947 aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt, seine Frau lebt mit den Kindern seit zwei Jahren in Mecklenburg. Sie ist inzwischen hier heimisch geworden. Sie geht zweimal die Woche in die Siedlungen, um Wäsche auszubessern. Dafür bekommt sie mal hier einen Liter Milch, dort ein Stück Speck oder etwas Mehl. Im Herbst geht sie mit den Kindern Kartoffelnbuddeln. Dabei dürfen sie pro Tag und pro Person einen Zentner behalten. Gegen Ende der Ernte haben sie genug, um sich das ganze Jahr über sattzuessen und noch einige Zentner mehr, die sie abgeben können. "Welche Fabrik kann mir das bieten?" sagt der Mechaniker P. "Bei Karte II gehe ich langsam vor die Hunde. Und meine Familie dazu." So wie er denken viele. Sie verleugnen ihren erlernten Beruf und verdingen sich als landwirtschaftliche Hilfsarbeiter. Die frühere Landflucht ist in Stadtflucht umgeschlagen. Sie wird so lang anhalten, bis sich die materiellen Bedingungen der Städte gebessert haben. Bis auch die Stadt wieder die Grundlage der Ernährung -- Kartoffeln und Brot -- in ausreichendem Maße zur Verfügung stellt. Denn das Brot -- nicht Geld -- ist heute das Maß aller Dinge. Der volle Magen ist wichtig -- nicht der gefüllte Geldsack. Erst wenn die Neuproduktion an Gebrauchsgütern stärker anläuft, wird auch der Umsiedler wieder daran denken, den gerechten Lohn für seine Arbeit zu fordern. Denn heute ist es leider durchaus keine Ausnahme, daß er dem Bauern seine Arbeitskraft buchstäblich ›für ein Butterbrot‹ verkauft.
Wie wohnen nun die Umsiedler in diesem mecklenburgischen Dorf? Da ist Frau Anna P. frühere Haushälterin. Sie ist verwitwet, hat 2 Kinder. Sie bewohnt in Untermiete einen 9 qm großen Raum. Der Raum ist nicht heizbar, die Decke schadhaft. Die Küche wird mit zwei anderen Haushalten geteilt. Frau K. besitzt laut Fragebogen 2 Hemden, 1 Unterkleid, 1 Schlüpfer, 1 Paar Strümpfe. An Möbeln erhielt sie leihweise 1 Tisch, 1 Stuhl und 1 Bettgestell. Dann 1 Strohsack. Sie besitzt außerdem 1 Federbett, 1 Wolldecke, 1 Laken, 1 Bezug und 3 Handtücher. An Geschirr hat sie sich 2 Teller leihen können, Tassen, Eßbesteck, Eimer und sonstiges Küchengerät fehlen.
Ein ehemaliger Lehrer aus Pommern. Bewohnt mit seiner Frau 12 qm. Gemeinsame Küchenbenutzung mit zwei anderen Haushalten. Kein Nebengelaß. Keine eigenen Möbel, leihweise 2 Stühle, 1 Schrank, 2 Betten, 2 Matratzen. Aus dem früheren Hausbestand konnten 2 Federbetten, 2 Wolldecken, 2 Laken und 4 Handtücher noch gerettet werden. -- Ein Maurer aus Pommern wohnt mit seiner Frau in einer Dachkammer, 9 qm groß, die früher als Kornboden Verwendung fand. Sie besitzen 1 Tisch und 1 geliehene Matratze.
So geht es fort, Blatt um Blatt. Heute wissen wir angesichts der Fragebogen, daß der Umsiedler nur über einen Wohnraum von 9 bis 15 qm verfügt, gegenüber 15 bis 50 qm der Altbürger-Wohnung. Wir lesen ab, daß ein Viertel der Umsiedler nur ein einziges Hemd hat und ein Drittel von ihnen nicht einmal das. Das beinahe die Hälfte kein eigenes Bett besitzt.
Doch die Ausbeute der Fragebogen ist nur einseitig. Nach dem Studium dieser ›Bilanz der Armut‹ wissen wir zwar, was dem einzelnen Neubürger fehlt -- wir ahnen aber nur ungenau, was der durchschnittliche Deutsche heute noch (oder schon wieder) besitzt. Tatsache ist: Die 33 000 Umsiedler sind nackt und bloß nach Mecklenburg hineingekommen. Heute haben sie schon wieder ein Mobiliar und die wichtigsten Kleidungsstücke. Das ist ohne Zweifel ein Fortschritt. Weiter ist es ein Beweis praktischer Solidarität, wenn die Rubrik ›geliehene Gegenstände‹ bei jedem Umsiedler eine stattliche List aufweist. Ein Zeichen, daß sich auch der Altbürger auf seine Pflichten besinnt.

Mittler zwischen Buch und Mensch
Neues Deutschland, 14.12.1957

In der diesjährigen "Woche des Buches" hatte ich ein Erlebnis, das mir noch lange zu denken gab. Ich hatte mich verpflichtet, im Bezirk Cottbus zu lesen. Ort und Zeit der Veranstaltungen waren seit langem festgesetzt, und da, wie ich wußte, der "Auftakt" der dem Buche geweihten Woche am Sonntagvormittag in Lübben stattfinden sollte, hatte ich der dortigen Kreisbibliothek meine Ankunft für den vorhergehenden Abend angekündigt. Eine Autopanne machte mir jedoch einen Strich durch die Rechnung, und statt am zeitigen Abend, traf ich erst gegen Mitternacht in der Spreewaldstadt ein.
Seit Stunden goß es in Strömen, und die kleine Stadt lag hinter dem dichten Regenvorhang völlig menschenleer. Selbst in den Häusern schien alles Leben erstorben. Die Pfützen spiegelten einen kraftlosen Mond, der mit dem trübseligen Licht einiger Straßenlaternen zu wetteifern schien, ihnen aber immer wieder an Kraft unterlag, zeitweilig erlosch und sich mühselig aufs neue behauptete. Mir begegnete auf meiner Fahrt durch die Stadt -- scheinbar als einziges Lebewesen -- nur ein einsamer Volkspolizist, der auf einer der Ausfahrtstraßen seine Runde machte. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und den Kopf tief zwischen den Schultern vergraben. Freundlich wies er mir den nächsten Weg ins Hotel, den ich dann auch eilig antrat -- denn ich empfand nach den Irrfahrten dieser Reise nur noch den Wunsch nach Wärme und Geborgenheit. Etwa jetzt noch die Bibliothek aufzusuchen, wäre mir völlig absurd erschienen, glaubte ich doch, der betreffende Bibliothekar sei inzwischen längst nach Hause gegangen.
Ich hatte aber kaum eine halbe Stunde in dem Gasthaus gesessen und eben eine warme Mahlzeit zu mir genommen, als die Tür aufging und eine Frau mittleren Alters auf der Schwelle erschien, sich suchend unter den wenigen Gästen umsah und dann straks auf mich zugeeilt kam. Sie erzählte mir dann, daß sie bis jetzt in der Bibliothek auf mich gewartet habe und daß sie auch fest entschlossen gewesen sei, wieder dorthin zurückzukehren, um weiter zu warten, notfalls die ganze Nacht hindurch -- falls ich nicht eben hier inzwischen gelandet wäre.
Ein Einzelfall von hohem Pflichtbewußtsein? Wer wie ich des öfteren Gelegenheit hat, mit Bibliothekaren zusammenzukommen, der wird mir bestätigen, daß man dieses ausgeprägte Pflichtgefühl, diese selbstverständliche Hingabe an den Beruf, ja, ich möchte sagen, diese Besessenheit, mit der sich die meisten von ihnen ihrer einmal gewählten Aufgabe widmen, immer wieder antrifft. Und ich glaube, wir sollten diese Tatsache in einer Zeit, in der wir uns auf anderen Gebieten unseres Lebens noch oft über mangelnde Verkaufskultur, über schlechtes Arbeitsbewußtsein usw. zu beklagen haben, mit ganz besonderem Nachdruck feststellen und uns darüber freuen.
Mein Weg führte mich am nächsten Tag, dem 7. Oktober, nach Herzberg; und auch hier wartete die Bibliothekarin, ungeachtet des Feiertages, schon am frühen Morgen auf mich, obwohl sie das keineswegs nötig hatte, denn meine Vorlesung sollte ja erst am Abend stattfinden. Wieder also ein Fall von besonderem Pflichtgefühl, von hoher Arbeitsmoral. Ich glaube, die Ursache hierfür liegt darin, daß beide Bibliothekarinnen, von denen hier die Rede war und deren Reihe ich beliebig verlängern könnte, sich der großen gesellschaftlichen Bedeutung ihres Berufes bewußt sind. Sie gehören zu dem Kreis jener, die vor 1945 bereits einen anderen Beruf ausübten und sich erst später in Sonderlehrgängen, neben ihrer praktischen Arbeit, zu qualifizierten Bibliothekaren entwickelten. Ein großer Prozentsatz der heute tätigen Bibliothekare setzt sich aus ehemaligen Arbeitern zusammen -- und ich behaupte, die große Revolution, die sich bei uns im Laufe der letzten zehn oder zwölf Jahre auf dem ganzen Gebiet des Bibliothekswesens vollzogen hat, wäre ohne diese Menschen, die aus Liebe zur Sache, aus Liebe zum Buch ihren verantwortungsvollen Beruf ergriffen haben, überhaupt nicht möglich gewesen.
Vergegenwärtigen wir uns doch kurz, welches Erbe wir 1945 übernommen haben. 40 bis 70 Prozent aller Bücher mußten zunächst einmal aussortiert werden, da sie faschistisches Ideengut enthielten. Daneben aber galt es, die Landbevölkerung, die bis dahin von der Vermittlung der Literatur durch Bibliotheken so gut wie ausgeschlossen gewesen war, so rasch wie möglich als Leser zu gewinnen. Hier gab es weite Flächen noch unbestellten Bodens, der seiner Bearbeitung harrte. Nur 25 Prozent aller Gemeinden waren in den Jahren 1933 und später mit Bibliotheken versorgt. Heute dagegen bestehen bereits in 95 Prozent aller Gemeinden der DDR Bibliotheken -- gegenüber nur 29 Prozent aller Gemeinden in der Bundesrepublik. Wurden früher in ganz Deutschland pro Einwohner 0,32 Bücher entliehen, so beträgt die Zahl der Entleihungen heute bei uns bereits 1,2 gegenüber nur 0,44 in der Bundesrepublik. Die Mittel, die der Staat für das Bibliothekswesen zur Verfügung stellte, betrugen früher in Deutschland pro Einwohner 0,13 Pfennig, in der Bundesrepublik betragen sie heute 0.41 Pfennig -- in der DDR dagegen 1,05 DM! Diese Zahlen muß man zu lesen verstehen. Wer sie richtig in sich aufnimmt, sie mit Leben erfüllt, dem offenbart sich hinter den nackten Ziffern ein großes Maß von aufopferungsvoller, täglicher Kleinarbeit, die von Hunderten von Bibliothekaren, von Tausenden nebenberuflich tätiger Mitarbeiter auf dem Lande geleistet wurde, und die letzten Endes dazu geführt hat, überall auf dem flachen Lande, ja, bis ins letzte Dorf hinein eine Kulturrevolution größten Ausmaßes auszulösen.
***
Diese Revolution ist noch lange nicht abgeschlossen. Lautete im Anfang die Losung: "In jede Gemeinde eine Bibliothek!" -- so muß diese Losung heute bereits von der viel weitergehenden Forderung ergänzt werden: "Jedem Leser im Dorf das von ihm benötigte Buch!" Es liegt auf der Hand, daß diese Forderung an den Bibliothekar viel größere Ansprüche stellt, gilt es doch jetzt für ihn, sich auf die ganz speziellen Bedürfnisse des einzelnen Lesers einzustellen. Natürlich kann diese Arbeit von dem Kreisbibliothekar, der je nach Lage und Größe seines Kreises zwanzig bis achtzig Gemeinden mit Literatur zu versorgen hat, allein nicht bewältigt werden. So hat er sich im Laufe der Zeit in jeder Gemeinde einen nebenberuflich bzw. ehrenamtlich tätigen "Helfer" herangebildet.
Auf der kürzlich vom "Zentralinstitut für das Bibliothekswesen" einberufenen Konferenz der Bibliothekare, die der Verbesserung der Bibliotheksarbeit auf dem Lande dienen sollte, hatte man Gelegenheit, eine ganze Reihe dieser nebenberuflich tätigen Dorfbibliothekare -- zumeist waren es übrigens Frauen, wie ja Frauen in der Erfüllung der Aufgabe, mit dem Buch zu arbeiten, ganz besondere Befriedigung finden -- kennenzulernen. Viele von ihnen sind im Hauptberuf Lehrer; andere sind Genossenschafts- oder Einzelbäuerinnen, die die Liebe zum Buch dazu getrieben hat, die zusätzliche Arbeit des Buchausleihens zu übernehmen. Vielfältig und nicht hoch genug einzuschätzen sind die Bemühungen dieser Menschen, für das gute Buch zu werben und neue Leser in ihrem Dorf zu gewinnen. Eins haben sie dabei ihren hauptamtlich tätigen Berufskollegen in der Stadt voraus, was ihnen bei ihrer Arbeit zugute kommt: Sie kennen ihre Leser fast so gut wie sich selbst. Sie wissen, daß der Nachbarsjunge vor einer Facharbeiterprüfung steht, bei der sie ihn sicher mit einem entsprechenden Buch unterstützen können. Sie wissen, wer von den Nachbarsfrauen demnächst ein Kind erwartet; sie wissen von etwaigen Erziehungsschwierigkeiten, sie wissen von anderen Problemen, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe abspielen. Und fast überall können sie mit dem entsprechenden Buch -- sei es ein Fachbuch oder Roman -- helfend und unterstützend einspringen.
Eine Lehrerin aus dem Kreis Parchim schilderte sehr temperamentvoll, wie sie wochenlang mit einem Bauern gerungen hatte, um ihn als Leser zu gewinnen. Halstarrig hatte er alle ihre "Annäherungsversuche" immer wieder mit der stereotypen Antwort abgelehnt: "Ich lese nicht. Die Bücher sind alle politisch. Und mit Politik verdiene ich kein Geld." Als dann aber sein Nachbar eine bessere Ernte einbrachte und sie ihm triumphierend erzählen konnte, daß dieser tüchtige Bauer bei ihr ständiger Leser sei und viele Ratschläge aus den Büchern hole, habe er sich von ihr ebenfalls ein Fachbuch ausgeliehen. Seitdem zähle sie ihn zu ihren eifrigsten Lesern.
Immer wieder hörte man auf der Konferenz Klagen darüber, daß die Buchbestände den Lesehunger der Bevölkerung nicht mehr stillen können. Eine Bibliothek, will sie den ständigen lebendigen Kontakt mit ihren Lesern halten, muß einem dauernd sich erneuernden und verjüngenden Organismus gleichen. Eine regelmäßige "Blutzufuhr" an neuen Büchern muß gewährleistet sein. Zeitweilig hatte man geglaubt, diese "Blutzufuhr" mit Hilfe des sogenannten "Kreis-Leih-Verkehrs" sichern zu können. Das waren Bücherkisten, die den einzelnen Gemeinden von der Kreisbibliothek für eine befristete Zeit zur Verfügung gestellt wurden. Aber diese Maßnahme hat sich inzwischen als zu begrenzt erwiesen. Die leeren Magazine der Kreisbibliotheken bezeugen, daß die Bibliothekare und ihre vielen tausend Helfer auf dem Lande hervorragend gearbeitet haben. Die einstmals geltende These "im Dorf wird nicht gelesen" wurde durch die Praxis längst widerlegt. Wenn auf der Konferenz angeregt wurde, auf dem Lande Zentralbibliotheken zu schaffen, die von hauptamtlichen Bibliothekaren zu leiten sind und möglichst in der Nähe einer MTS liegen sollen, so kommt hierbei der Kaderfrage besondere Bedeutung zu. Wäre es nicht gerade für die jungen Bibliothekare, die erst kürzlich die Fachschule für Bibliothekswesen verlassen haben, eine dankbare Aufgabe, eine solche Musterbibliothek auf dem Lande einzurichten? Sicher läßt sich unsere Jugend nicht von den Älteren, was Opferbereitschaft und Pflichtbewußtsein betrifft, in den Schatten stellen.


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